„Ich starte in Tech-Meetings gefühlt oft bei minus zehn“
In der Tech- und KI-Branche sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert. Das beginnt häufig schon früh: bei Rollenbildern im Kinderzimmer, im Unterricht oder im Studium. Carolin Edler-Mende, Gründerin des Heidelberger KI-Unternehmens Aristech und Mutter von drei Töchtern, kennt beide Perspektiven: die der Unternehmerin in einem männlich geprägten Feld – und die der Mutter, die beobachtet, wie Geschlechterzuschreibungen ganz selbstverständlich weitergegeben werden.
Zum Weltmädchentag spricht sie offen über ihre eigenen Erfahrungen in der männerdominierten Tech-Welt, darüber, warum Unternehmen mehr Gestaltungsmacht haben, als sie glauben – und weshalb Veränderung dort beginnt, wo die wenigsten hinschauen: im Alltag.
Frau Edler-Mende, erinnern Sie sich an eine Situation, in der Ihnen bewusst wurde, dass Sie als Frau in der Tech-Welt anders wahrgenommen werden?
Oh ja, da gibt es einige. Eine Situation ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: ganz am Anfang, als wir eine unserer ersten großen Ausschreibungen verhandelt haben. Ich war mit einem Kollegen unterwegs, wir haben uns vorher mit dem Partnerunternehmen getroffen. Ich war kurz draußen – und in dieser Pause sagte einer der Partner zu meinem männlichen Kollegen: „Ah, super, dass ihr ein Schmuckerl dabeihabt.“ In der eigentlichen Verhandlung habe dann ich das komplette Gespräch geführt und den Auftrag geholt. Aber dieses Erlebnis hat sich eingebrannt. Es war kein Einzelfall – eher ein besonders dreistes Beispiel für eine Haltung, die ich immer wieder gespürt habe.
In technischen Meetings habe ich insgesamt oft gemerkt: Ich starte nicht bei null, sondern bei minus zehn. Bei den männlichen Kollegen wird Kompetenz vorausgesetzt, bei mir musste ich sie erst beweisen. Das war vor allem in den ersten Jahren so. Heute passiert das seltener – meine Rolle als Gründerin und Geschäftsführerin eines mittlerweile etablierten Unternehmens verändert die Wahrnehmung. Aber das Grundmuster bleibt, vor allem für jüngere Frauen.
Hat Sie das nie abgeschreckt?
Nein. Ich hatte Glück. Ich bin damit groß geworden, dass Frauen selbstverständlich arbeiten. Meine Mutter, meine Großmütter – alle waren berufstätig, auch mit Kindern. Für mich war das völlig normal. Ich habe nie geglaubt, dass ich mich zwischen Karriere und Familie entscheiden muss.
Erst später habe ich verstanden, wie besonders das eigentlich war. Bei vielen Frauen in meinem Umfeld war das anders. Da passiert oft der klassische Karriereknick, sobald das erste Kind da ist: Die Frauen übernehmen mehr Verantwortung zu Hause, die Männer bleiben voll im Job – und selten wird das irgendwann wirklich wieder ausgeglichen. Das ist nicht individuell, das ist strukturell. Studien der Bundesagentur für Arbeit zeigen ja, dass rund drei Viertel der Mütter in Teilzeit arbeiten, bei Vätern sind es gerade einmal 17 Prozent. Das sagt eigentlich alles.
Sie haben drei Töchter. Was beobachten Sie bei ihnen?
Es ist erschreckend, wie früh und wie selbstverständlich Geschlechterzuschreibungen greifen. Schon im Kindergartenalter merkt man das. Bei Jungs wird sofort angenommen, dass sie sich für Technik interessieren. Bei Mädchen ist die Haltung: „Kann man ja mal probieren.“
Wenn man aber Mädchen dieselben Angebote macht, greifen sie genauso selbstverständlich zu. Meine Töchter lieben Einhörner genauso wie Roboter. Das eine schließt das andere nicht aus – es wird ihnen nur selten beides angeboten. Genau da beginnt das Problem: Das gesellschaftliche Signal lautet oft – unausgesprochen –, dass Technik eigentlich nichts für sie ist. Das prägt, und es ist schwer, das später wieder abzubauen.
Sie sagen, der entscheidende Hebel liegt früh. Was meinen Sie damit?
Wenn wir wollen, dass mehr Frauen KI mitgestalten, müssen wir viel früher ansetzen – bei der Sozialisierung. Mädchen müssen von Anfang an erleben: Alles steht ihnen offen. Das heißt nicht nur: „Du darfst das auch“, sondern: „Wir trauen dir das selbstverständlich zu.“
Ich sehe das jedes Jahr beim Girls’ Day oder am Weltmädchentag bei uns im Unternehmen. Wenn Mädchen in unsere Büros kommen, mit Entwicklerinnen sprechen, dann leuchten die Augen. Diese Momente sind Gold wert. Weil sie zeigen: Das Interesse ist da – wenn man die Räume dafür öffnet.
Wie setzen Sie diese Haltung heute bei Aristech um?
Wir haben heute über 50 Prozent Frauenanteil – auch im Entwicklungsteam. Das ist in unserer Branche ungewöhnlich. Wir achten sehr bewusst darauf, dass Frauen nicht automatisch in „Datenannotation“ oder kommunikative Rollen geschoben werden, während die Männer die Entwicklungsjobs bekommen. Wenn eine Kollegin in die Entwicklung will, bekommt sie die Chance. Und die Frauen machen das hervorragend.
Und wir gestalten unsere Arbeitsmodelle so, dass Eltern wirklich gleichberechtigt arbeiten können. Flexible Zeiten, Verständnis für Betreuungssituationen. Ich habe viele Väter im Team, die lange Elternzeit genommen haben. Das ist genauso selbstverständlich wie bei Müttern.
Wo sehen Sie die größten blinden Flecken?
Viele Unternehmen schreiben Diversität in ihre Strategiepapiere – aber sie leben sie nicht. Die Strukturen sind nach wie vor auf ein männliches Vollzeitmodell ausgelegt. Teilzeit wird oft als „Karriererisiko“ gesehen. Väter, die Elternzeit nehmen, müssen sich rechtfertigen.
Ich habe schon oft gehört: „Bei meinem Mann geht das mit der Elternzeit gerade nicht, weil…“ – und dieser Satz klingt immer gleich. Egal, welcher Job. Und bei den Müttern scheint es auf wundersame Weise immer möglich zu sein. Wenn wir das nicht hinterfragen, ändert sich nichts. Unternehmen können hier viel mehr verändern, wenn sie wollen.
Was wünschen Sie sich zum Weltmädchentag?
Ich wünsche mir, dass Mädchen von Anfang an alles gezeigt bekommen und dass wir ihnen zutrauen, alles zu können. Die Zukunft wird in KI und Software gestaltet. Und da müssen Frauen mitschreiben. Und ich wünsche mir, dass wir aufhören, Diversität als Zusatz zu betrachten. Es geht nicht um Sonderrollen, sondern um gleiche Chancen – von Anfang an.